reMIVEri 2017

canottaggio e remoturismo

Echte Ruderer

485 Kilometer von Mailand nach Venedig

Suse Koch

Riccardo hatte einen Traum. Von Zürich bis zur Vogalonga in Venedig wollte er rudern. Stattträge im Zug zu sitzen, reizte es ihn, die gesamte Strecke mit eigener Muskelkraft zurückzu-legen und die vorbeiziehende Landschaft hautnah aus dem Ruderboot zu erleben.

Er begann zu recherchieren und bezog bald darauf Judith, Georgette und mich in seine Pläne ein. Im Internet stiess er auf eine italienische Rudergruppe in Mailand mit dem vielversprechenden Namen „reMIVEri“ – echte Ruderer. Die „reMIVEri“ des Ruderclubs San Cristoforo hatten sich bereits 2015 pünktlich zur Expo in Mailand ins Abenteuer gestürzt und eine vergessene alte Schiffshandelsroute auf dem Fluss Po von ihrer Heimatstadt Mailand bis Venedig reaktiviert, indem sie die gesamte Strecke mit dem Ruderboot nachfuhren.

Auslöser der Idee war im Jahre 2013 eine Foto-Ausstellung in Mailand über die „Stadt zwischen den! Weltkriegen – Die Entdeckung der Stadt der Kanäle“. Einst wurde Mailand fast wie Venedig von einer Vielzahl von Kanälen durchzogen, die im Laufe der Zeit von Strassen überdeckt wurden. Teilweise schlummern die Kanäle noch immer unter dem dichten Strassennetz. Massimo und Giacomo, zwei passionierte Ruderer des Ruderclubs San Cristoforo, stolperten über einige Fotografien von Arnaldo Chierichetti aus den 1920er Jahren. Darauf waren einige Ruderer zu sehen, die sich gerade auf den Weg machten, auf dem Po von Mailand nach Venedig zu rudern, weiter nach Triest und schliesslich nach Pula in Istrien. Giacomo und Massimo waren sofort Feuer und Flamme, es diesen Pionieren gleichzutun.

Es nahm einige Zeit in Anspruch, die Idee in die Tat umzusetzen. Die gesamte Strecke musste ge-prüft, Genehmigungen eingeholt und die Tiefe des Flusses analysiert werden. Schliesslich war das Unternehmen „reMIVEri“ geboren. Der harte Kern besteht aus 15 Ruderern aus Mailand, die jedes Jahr wieder die alten Wasserstrassen, die einst von der Schweiz, dem Lago Maggiore, über Mailand bis zur Adria eine wichtige Handelsroute bildeten, nachfahren, um die einzigartige, weitgehend unberührte Landschaft entlang des Flusses neu zu entdeckten. Längerfristig sollen mit diesem Konzept der Rudersport und ein nachhaltiger, umweltfreundlicher Tourismus in der Region gefördert werden. Es besteht die Hoffnung, dass die alten Wasserwege wieder vollständig geöffnet werden und letztlich auch das Potential von Mailand als „Stadt des Wassers“ wiederentdeckt wird.

Dieses Jahr durften erstmalig auch Externe probeweise an dem Abenteuer teilnehmen. Unter diesen Versuchskaninchen waren wir, die „Schweizer Fraktion“. Auch wenn wir nun von Mailand statt Zürich losruderten, lagen bis Venedig immerhin noch über 450 Kilometer verteilt auf sieben Etappen vor uns. Das Schweizer Klischee bedienend machten wir uns mit einer Riesen-Toblerone und Sackmessern als Gastgeschenk bewaffnet auf in den Süden. Schon im Zug war die Aufregung gross. Ehrlich gesagt war noch keiner von uns Polytechnikern bisher 60 bis 80 Kilometer an einem Tag am Stück gerudert, geschweige denn an sieben aufeinanderfolgenden Tagen. Unser Langstreckentraining beschränkte sich auf Ausflüge inklusive gemütlichem Picknick bis zur Halbinsel Au und zurück, – um die 30 Kilometer. Aber was wäre das Leben ohne Herausforderungen und eine Prise Abenteuer.

Am ersten Tag gab es keinen Grund zur Sorge. Der Auftakt von Mailand nach Pavia begann harmlos.Die Strecke auf dem „Naviglio Pavese“ zum Anschluss auf den Po hat mehr einen symbolischen Charakter, da der Fluss für den Bootsverkehr geschlossen ist. Die Schleusen funktionieren nicht mehr. Nur die erste kann geöffnet werden, und nach wenigen Metern werden die Ruderboote wieder ausgewassert. Inspiriert von alten Schwarz-Weiss-Fotos der Pioniere aus den 1920er Jahren werden die Boote auf selbstgebaute Anhänger geladen, an jeweils ein Tandem angekoppelt und entlang des Flusses 40 Kilometer bis nach Pavia gezogen. Jeweils zwei müssen auf dem Tandem ordentlich strampeln. Doch zur mentalen Unterstützung werden sie von allen Ruderern und reMIVEri-Fans mit einem Tross von Velos begleitet.


Am nächsten Tag ging es dann richtig los: rund 65 Kilometer von Pavia bis Piacenza. Unverhofft ergattern Judith und ich einen Ruderplatz und können zu Riccardo mit ins Boot steigen, statt die erste Etappe mit dem Velo zurückzulegen. Nach einem kurzen Stück durch die Stadt Pavia auf dem Fluss Ticino erreichen wir unser erstes langersehntes Ziel: den Po. Endlich! Wie lange hatten wir uns das schon ausgemalt und am Ende nach mühsamen Querelen im Team schon selber nicht mehr daran geglaubt.

Der Fluss windet sich kurvenreich durch die Landschaft und wir uns rudernd mit ihm. Keine Autostrasse kann dieser Kontur folgen. Zum Glück! Auf dem Wasser treffen wir bis auf vereinzelte Fischer kaum andere Boote, welche für unruhiges Wasser sorgen könnten. Seitlich begrenzen den Fluss Deiche, auf denen ein Weg für Fussgänger und Velofahrer angelegt wurde. Dahinter kann man die weiten, fruchtbaren Felder der Po-Ebene allenfalls erahnen, welche die Kornkammer Italiens bilden.
Stattdessen wähnt man sich in unberührter Landschaft, weit weg von jeglicher Zivilisation. Beim Rudern stellt sich bald ein steter Rhythmus ein: vorrollen, Blätter eintauchen, durchziehen und wieder vorrollen, Blätter eintauchen, durchziehen… Fast wie Meditation und wir lassen den Alltagsstress hinter uns. Viel Zeit, um vor sich hinzuträumen. Stellenweise könnte man fast meinen, sich in Südamerika auf dem Amazonas oder im Pantanal zu befinden. Das goldene Licht, die dunstige Hitze, die feuchte Luft und das zwischen grau, braun, grün und blau changierende Wasser des Flusses, der von grün bewachsenen Ufern gesäumt wird. Wären plötzlich Alligatoren auf uns zu geschwommen, hätte es mich einen Moment lang nicht gewundert.

Doch es lauern keine derartigen nervenaufreibenden Gefahren. Es geht einfach immer weiter: vorrollen, Blätter ins Wasser und durchziehen… Unbekümmert den Blick schweifen lassen, geniessen, abschalten. Aber plötzlich schrecken uns immer wieder lautstarke, fordernde Aufschreie aus unseren Tagträumen: „Altogether guys!“ „Light and quick in the water!” „Don’t push too much!” Unser Teamcaptain Guido mahnt uns immer wieder zu Konzentration und einer sauberen Rudertechnik.
Nicht zu Unrecht, um unsere aller Kräfte zu schonen. Und schon bald spürt man, dass das Boot immer harmonischer durch das Wasser gleitet und wir zu einem Team zusammenwachsen. Zu diesem Team gehört auch Paolo unser „engine“ aus Como und mit 68 Jahren noch fitter als topfit. Er sorgt als Kraftpaket für den Rest.

Um einen regen schweizerisch-italienischen Kulturaustausch bemüht sich Giacomo, indem er uns italienische Kinderlieder auf Englisch beibringt. Wir warten noch immer auf eine Lehrstunde der italienischen Originalfassung, um uns auch an dieser neuen Herausforderung messen zu können. Als Gegenleistung versuchen wir „Fake-Swiss-people“ (eine Holländerin, ein 40-Prozent-Schweizer und eine Deutsche), uns mit gebrochen schweizerdeutsch vorgetragenen Volksliedern zu revanchieren.
Massimo, der „maximizer“, hängt wie Giacomo meistens am Smartphone, um für einen reibungslosen Ablauf unseres Abenteuers zu sorgen. Er kümmert sich um alles! Von der Reparatur von Velos bis zur Zimmeraufteilung, die er Abend für Abend mit einer Engelsgeduld umstellt, um jeden Belegungswunsch zu erfüllen. Sein Vater Antonio ist unser Fahrer und treuer Begleiter, immer zur Stelle wenn er gebraucht wird, kutschiert er sicher unser gesamtes Gepäck, Verpflegung und Ersatzteile von Etappe zu Etappe.

Ein weiteres Boot füllen Nicola, der von Beruf Arzt ist und sich unterwegs rührend der Blessuren aller Teammitglieder annimmt, die toughen Regattaruderinnen Ivana, Bettina, Dani und nicht zu vergessen „Luxemburgerli“ – mit bürgerlichem Namen Giulio. Sonst eine Frohnatur, beklagt er sich bitterlich, aufgrund seines Wohnsitzes nach einer „Schweizer Patisserie“ benannt worden zu sein.
Am Schluss ergibt er sich jedoch seinem Schicksal. Vielleicht besänftigte ihn auch ein wenig die Feststellung, dass er ein „Schokoladen-Luxemburgerli“ sei.

Auch an den folgenden Tagen rudern wir unterstützt von der Strömung im Schnitt zwischen 60 und 80 Kilometern und mit einer Geschwindigkeit von circa 15 km/h. Handschuhe schützen davor, dass die Hände allzu sehr in Mitleidenschaft gezogen werden. Mindestens eine Blase kommt dennoch jeden Tag hinzu. Aber sobald man auf dem Wasser ist, spürt man davon nichts mehr. Noch wichtiger sind die zwei bis drei Sitzkissen für den wunden „Popo“. Es sei denn man hat einen aus Stahl wie Riccardo, der ohne Polster auskommt oder wie Judith eine liebe Schwester, die selber zu Nadel und Faden griff, um ein extradickes Spezialkissen in holländischem „Oranje“ anzufertigen. Auf dem Fluss ist es so ruhig, dass man sich nur vor Stromschnellen und Untiefen in Acht nehmen muss. Sandinseln und Strände am Ufer laden immer wieder zu Pausen ein. Dort entkommen wir der Mittagshitze oder 4baden zur Abkühlung im Fluss. Paradiesisch! Nach geschafftem Tagwerk können wir unsere drei Boote meistens bei Ruderclubs deponieren und übernachten in der Nähe des Flusses. In unseren Herbergen werden wir immer wieder mit dem besten Essen verwöhnt, um die Kraftreserven aufzufüllen.

Am siebten Tag wartet schliesslich der letzte Härtetest auf uns. Der Fluss wird immer breiter, die Strömung immer schwächer. Wir erreichen das Po-Delta und verlassen den grossen Fluss schweren Herzens, um auf Kanälen und durch mehrere Schleusen bis zur Laguna di Venezia bei Chioggia vorzudringen. Hier müssen wir noch einmal alles geben. Luxusjachten flanieren vor dem Lido auf und ab und geben immer wieder Vollgas. Meterhohe Wellen bringen unser Boot gefährlich zum Schaukeln. In Ansätzen sind wir dieses „coastal rowing“ von Sommerabenden auf dem Zürisee gewöhnt; aber nur in Ansätzen. Auch die letzten Blasen öffnen sich. Doch das Spektakel, das sich hier bietet, macht alles wieder wett: die scheinbar endlose Weite der Lagune, auf der einen Seite der Lido und auf der anderen in der Ferne das Festland. Am Himmel ballen sich stellenweise dunkle Wolken zusammen. Aber der Regen erreicht uns nicht. Sonnenstrahlen durchbrechen die Wolkenmassen und zaubern ein magisches Licht. Was für ein Empfang!

Riccardo springt aus dem Boot und watet durch die flache Lagune, um den Augenblick mit der Kamera festzuhalten. Fast hätten wir ihn, so ausgestattet mit einigen Tüten des beliebten „Integrators“, einem scheusslich schmeckenden aber sehr nährstoffreichen, isotonischen Getränkepulver, mitten in der Lagune zurückgelassen. Auf dem Zahnfleisch rudernd ist jede Gelegenheit willkommen, um Gewicht zu sparen. Doch das bringen wir doch nicht über das Herz. Riccardo darf wieder an Bord kommen. Noch einige Bootslängen und in der Ferne tauchen endlich der Campanile und die vertraute Fassade des Dogenpalastes am Piazza San Marco auf. VENEZIA AMORE MIO – NOSTRO! Wir mobilisieren die allerletzten Kräfte und landen bei einem Ruderclub auf der Giudecca. Eigentlich sollte die Vogalonga nach einem wohlverdienten Ruhetag den glanzvollen Abschluss der Reise bilden. Doch ! unseres Abenteudieser Moment der Einfahrt nach Venedig ist nicht mehr zu toppen: Die Krönung ers, das langersehnte Ziel und die Gewissheit es tatsächlich geschafft zu haben:

485 Kilometer!

Da Milano a Venezia!

Grazie mille reMIVEri!!!©reMIVEri